This is Chris NOT LA

Montag, 14. März 2011

Well, he's not the world's most physical guy


Vor Andrej Pejic hat wohl kaum ein Typ in Damenkleidern eine überzeugendere Figur gemacht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis die Geschlechtergrenzen vollkommen fallen - so hofft man jedenfalls.

Was waren wir nicht alle froh. Mit dem Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends, so schien es, endete auch die Ära der „Dior-Hommes“, dieser schlacksigen, blassgesichtigen, hühnerbrüstigen Milchbubis, die man wohl kaum als exemplarisch für die männliche Spezies bezeichnen konnte.

Eine Entwicklung, die von Mann als auch Frau gleichermaßen wohlwollend begrüßt wurde.

Männer mussten nun nicht mehr die Disziplin eines Karl Lagerfelds aufbringen und sich auf Herrengröße 44 runterhungern, in Kleidung, die ganz offensichtlich auf Körper von 16-Jährigen zugeschnitten war.

Frauen konnten es kaum erwarten mal wieder Hand an einen echten Kerl zu legen, einen „Marke kanadischer Waldarbeiter“ mit Dreitagebart und Macher-Mentalität, einen bei dem sich, wenn er schon skinny tragen muss, ein sportlich maskuliner Körper abzeichnet. Ein Offizier und Gentleman.

Kaum hat die Menshealth ihre Auflage verdoppelt, um der steigenden Nachfrage nach effektiven Bauchmuskel- und Bizepsübungen Herr zu werden, kaum haben die Muckibuden-Neuanmeldungen für ein kleines Wirtschaftswunder gesorgt, kommt alles anders, 180° anders.

Der Modezirkus präsentierte jüngst seine neueste Attraktion. Meine Damen und Herren, treten Sie näher, sehen und staunen Sie: Der unglaubliche Andrej Pejic.

Ist er Mann? Ist er Frau? Man weiß es nicht.

Doch, weiß man. Nur hat der junge Herr serbokroatisch-australischer Herkunft, 1,83m groß, 19 Jahre alt, blaue Augen, langes blondes Haar und ebenso lange Beine, nur wenig Interesse an gängigen Vorstellungen von Mann und Frau. Vielleicht gehören mit Pejic solche offensichtlich überholten Klassifizierungen sowieso bald der Vergangenheit an.

Tillmann Prüfer, seines Zeichens Moderedakteur bei der Zeit, ist angesichts der aktuellen Entwicklung dermaßen aus dem Häuschen, dass er Pejic kurzerhand in den Ikonenstatus erhebt – auf eine Stufe mit Twiggy und Uschi Obermayer.

Trunken vor Euphorie skizziert er eine (nahe) Zukunftsvision, in der, Kraft Mode und Pejic, das Geschlecht keine Rolle mehr spielt, in der die Unterscheidung zwischen Mann und Frau obsolet wird: „Frauen schlüpfen in die Rollen von Männern, Männer werden zu Frauen.“

Dabei reicht die Bandbreite von wie zufällig wirkenden Nippelblitzern über Vergewaltigungsfantasien bei Dolce &Gabbana bis hin zu Terry Richardsons Gesicht tief zwischen zwei pralle Arschbacken gegraben.

Mann oder Frau? Jacke wie Hose!

In der Mode, einer Welt für sich, die weniger mit Rationalität, als mit einer ausgemachten Persönlichkeitsstörung gemein hat, mag das vielleicht möglich sein. Da zieht der Raf Simons einem Kerl eine enge, taillierte Schürze an, Christophe Decarnin betont die Damenschulter, und alle sind sich einig, hier werden Geschlechtergrenzen in Frage gestellt, am Status Quo gerüttelt.

Aber kann das wirklich so simpel sein?

Schaut es nicht eher so aus: Die glitzernden breiten Schultern der Nullerjahre wollen ihren Drink spendiert bekommen, während die der Achtziger sehr wohl selbst imstande sind, ihr Getränk zu zahlen. Aber danke für das Angebot. Ist es nicht gerade das, was Balmains Disco Couture von Thierry Muglers oder Claude Montanas Power Dresses unterscheidet:

Die breiten Schultern des 21. Jahrhunderts sind eindeutig feminin(er) konnotiert.

Eine zufriedenstellende Antwort darauf, was denn nun Mann und was Frau ist, gestaltet sich doch schwieriger als gedacht. Erst recht abseits des Catwalks.

Um diese Frage hat sich eine regelrechte Industrie mit allerlei „Fachliteratur“ und „Lehrfilmen“ gebildet, die uns der Beantwortung der Frage auf eine idiotensichere und leicht verständliche, jedoch vor allem erheiternde Art und Weise näher gebracht hat. Nie waren die Unterschiede zwischen Mann und Frau lustiger:

„Einen PKW einzuparken gehört nicht zu ihren Stärken? Erst recht nicht das parallele Einparken?

Herzlichen Glückwunsch. Sie sind eine Frau.

Sie haben Probleme die Butter im Kühlschrank zu finden? Im Butterfach ist sie auch nicht? Ganz sicher nicht?

Herzlichen Glückwunsch. Sie sind ein Mann.“

Die Ursprünge vermuten die Autoren irgendwo in der Steinzeit. Da gab es bekanntlich noch keine Mode. Vielleicht spielt sie daher auch eine eher untergeordnete Rolle, wenn es darum geht zu ergründen, was denn nun einen Mann und was eine Frau ausmacht.


Stellte man sich also die ernste Frage, ob Andrej Pejic nun Mann oder Frau sei, so müsste man sich dieselbe Frage auch bei Freja Beha Erichsen oder Agyness Deyn stellen.


Zugegeben, die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit obiger Beispiele gilt zu bezweifeln. Ich als Mann besitze beispielsweise nicht einmal einen Führerschein. Doch illustriert dieses Beispiel, dass Mann und Frau mehr trennt als Hose oder Rock.

Sind es nicht vielmehr soziale, politische und ökonomische Faktoren, die das Geschlecht definieren?

Eine Frau kann sich heutzutage einen dreiteiligen Anzug anziehen und sich – von mir aus – einen schönen Rauschebart stehen lassen. Sie wird stets eine Frau bleiben. Eine bärtige Frau in einem Anzug.

Wie Tillmann Prüfer richtig bemerkt, ist die Mode Spiegel der Gesellschaft. Auslöser einschneidender gesellschaftlicher Veränderungen kann sie jedoch nicht sein. Dafür ist sie zu selbstreferentiell, regiert von Egomanen und Autokraten, die sich mit jeder neuen Kollektion neu zu legitimieren suchen.

Leider leben wir noch immer in einer Männergesellschaft, in der das weibliche Streben nach Gleichstellung auf eine Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtausende währende Geschichte zurückblicken kann. Markiert Andrej Pejic nun den Anfang vom Ende dieses Prozesses – eine Perestroika der Geschlechter?

Kann ich also endlich in das Kleid schlüpfen, um das ich meine Freundin schon immer beneidet hab, ohne mir um meine Virilität Sorgen machen zu müssen? Ja, und wenn: Was würde das ändern?


Mode lebt von den Assoziationen, von der Inszenierung, aus sich heraus bewirkt sie gar nichts. Sie stillt lediglich unser phantasmatisches Begehren.


Niemand würde mein Geschlecht plötzlich anzweifeln. Ich wäre immer noch ein Mann, im Kleid zwar, aber mit einem im Vergleich prozentual höheren Monatslohn und generell besseren Karriere-Chancen gegenüber Frauen.

Stichwort Frauenquote. Seit Wochen tobt nun schon die Debatte. Laut einer Studie des Instituts für Unternehmensführung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) besetzen Frauen in den 500 größten deutschen Unternehmen derzeit nur rund 2,4 Prozent der Führungspositionen.

Selbst In der Politik, seit je her eine Männerdomäne, könnte die Quote für so manche erfreuliche Veränderungen Sorgen. Noch zeigt sich ein eher ernüchterndes Bild. Den wichtigsten Bundesministerien, wie Finanzen oder Verteidigung, stehen in der Regel Männer vor. Resorts wie Familie, Bildung oder Gesundheit sind, dem traditionellem Rollenverständnis entsprechend, eher dem schwachen Geschlecht vorbehalten.

Nennenswerte Ausnahmen, wie unsere ehrenwerte Frau Bundeskanzlerin, stellen jedoch auch kein Novum dar. Ich möchte an dieser Stelle an die „eiserne“ Margaret Thatcher erinnern, britische Premiermninisterin von 1979 bis 1990.

Aber wäre die Modeindustrie, mit ihren vorwiegend weiblichen Akteuren, nicht der ideale Ausgangspunkt für eine Quoten gestützte Revolution?

Man nehme und blättere ein x-beliebiges Modemagazin durch: Mindestens eine Fotostrecke, in der blank gezogen wird, findet sich immer. Dabei reicht die Bandbreite von wie zufällig wirkenden Nippelblitzern über Vergewaltigungsfantasien bei Dolce & Gabbana bis hin zu Terry Richardsons Gesicht tief zwischen zwei pralle Arschbacken gegraben.

Die Mode ist eine weibliche Industrie mit einem zutiefst männlichen Blick.

Selbst Pejic, der Mann, kann sich diesem nicht entziehen. Er wird auf durch und durch männliche Art und Weise als Frau inszeniert, dass man in seinem Fall schon gar nicht mehr von Androgynität, welche immer einen Ahnung des wahren Geschlechts wahrt, sprechen kann. Pejic kommt in einem Chanel-Kleidchen dermaßen überzeugend daher, der Gedanke, seinen prachtvoll femininen Modelkörper ziere ein ebenso prachtvoller Penis, erschiene absurd. Er ist 100 Prozent Frau bzw. die Idee, ein abstraktes, eindimensionales, werbetaugliches Bild einer Frau. Stellte man sich also die ernste Frage, ob Andrej Pejic nun Mann oder Frau sei, so müsste man sich dieselbe Frage auch bei Freja Beha Erichsen oder Agyness Deyn stellen. Aber auch bei Kate Moss, Rosie Huntington-Whiteley, Lily Cole, Anja Rubik und jedem einzelne Model, von dem wir wie selbstverständlich ausgehen, sie seien weiblichen Geschlechts. Doch letztendlich ist die Frage nach dem Geschlecht überflüssig. Es rückt zugunsten von Ambiguität in den Hintergrund. So lautet die eigentliche Frage: Ist sie H&M oder Hermes, Zara oder Zegna, Femme Fatale oder Mädchen von nebenan, Clown oder Reptil?

Eniko Mihalik schlüpft in der Dezember/Januar Ausgabe des Russh Magazins gleich in mehrere Rollen. So lautet der bezeichnende Titel der Fotostrecke auch „Eniko is everything“.

Mode lebt von den Assoziationen, von der Inszenierung, aus sich heraus bewirkt sie gar nichts. Sie stillt lediglich unser phantasmatisches Begehren.

Angesichts dessen halte ich es auch für etwas voreilig in utopische Schwärmereien zu verfallen.

Von dem großzügigen Vorschuss, den Prüfer Pejic auf seinen Ikonenstatus gewährt, ganz zu schweigen.

Denn bis jetzt hat dieser nichts Weltbewegendes bewiesen. Bis auf die Tatsache, dass Männer den Frauen offensichtlich mal wieder einen Schritt voraus sind, oder frei nach den Kinks: Boys will be girls and girls will stay girls.


7 Kommentare:

  1. !!! Ich hatte mich dermassen gewundert, dass in der Banalisierung der Frauendarstellung (körperspannungsloses Sein in Wäsche) ein Schritt zur Geschlechterfreiheit zu sehen sein soll ?!?
    So sehr man sich ästhetisch über das Magazin freuen kann, so wenig sollte man dieser Modeplattitüde Schlagkraft beimessen. Wie Du sagst, Gesellschaftsspiegel des männlichen Modeblicks von dem sich Frauen und Männer gleichermassen einsortieren lassen. Mangels gelebter Alternativen?
    Guter Artikel Deinerseits.

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  2. Danke. I like a lot. Gerade arbeite ich an einem großen Text, in dem dieses Auflösen der Geschlechtergrenzen eine wesentliche Rolle spielt. Progressiv angefangen im Glam-Rock - seitdem nie wirklich verschwunden und seit den 90ern im Emo weitergetrieben. In dieser Publikation gibt es einige sehr aufschlussreiche Texte zum Thema Androgynität und einen weiteren Beweis dafür, dass irgendwie doch immer alles in der Subkultur passiert, bevor es von den Laufstegen entdeckt wird... Tja bei den "Frauen" passiert tatsächlich immer nicht so viel --- Zu den Kinks fiel mir noch ein: where the girls aren't von Jessica Hopper (in dt. Übersetzung auch im genannten Buch). Vielleicht führt alles am Ende nur dort hin, des der Stereotype "Mann" aus der Gesellschaft verschwindet. Dass Machotum nicht mehr benötigt wird und die Gesellschaft von selbst verweiblicht??? I don't know. Es bleibt spannend zu beobachten! Die Geschlechter treffen sich irgendwo, jedenfalls nich in der Mitte, sondern eher irgendwo mehr auf der weiblichen Seite. "Das dritte Geschlecht"?

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  3. Ich fand deinen Artikel nicht schlecht. Zwei Sachen wollte ich aber kritisieren:
    1. Mich niervt die ständige Wiederholung der Floskel "das schwache Geschlecht". Nicht nur in deinem Artikel (du schreibst das nur 1x), sondern generell. Gerade wenn man kritisch schreiben will, ist es doch umso problematischer, wenn man unhinterfragt solche Floskeln übernimmt.
    2. Die Modeindustrie sei weiblich. Wie meinst du das? Ich bin mir da nicht so sicher. Die meisten Designer sind glaube ich männlich...
    Ich habe jetzt keine Belege dafür, aber ichhatte bsher den Eindruck, die Macher in der Mode seien überwiegend männlich.

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  4. Mahret! Ich hab zu danken.
    Klingt nach nem interessanten Text an dem du da grad arbeitest. Halt mich doch da bitte auf dem Laufenden.
    Dem eventuellen Verschwinden des "stereotypen" Mannes steh ich ja eher kritisch gegenüber. Vor allem der von dir gennante Glamrock, spontan muss ich da an Gary Glitter denken, und der sich in den späten siebzigern und frühen achtzigern daraus entwickelnde Glam-Metal (z.B. Mötley Crüe, Twisted Sister oder Poison) sprüht ja, trotz des regen Gebrauchs von Makeup und körperbetonenden Spandex-Outfits, vor übermäßigem Machismo.
    Aber das ist nur mein erster oberflächlicher Eindruck. Halt mich doch bitte über deinen Text auf dem Laufenden.


    Ami! Vielen Dank für deinen Kommentar.
    Im Zusammenhang mit meinem Artikel ist deine Kritik durchaus zulässig, kann man der Frau doch durchaus Macht und Stärke zuschreiben. Die Tatsache, dass Männer nun auch Frauenkleider tragen (dürfen oder wollen), kann ja auch als Hinweis auf eine Art Kastrationsangst gelten, einer ständigen Bedrohung des herrschenden patriarchalischen Machtgefüges. Um dem vorzubeugen werden nun weibliche Machtinsignien angeeignet und vermännlicht.
    Ich versteh durchaus, dass es nervig ist ständig daran erinnert zu werden, man gehöre zum angeblich "schwachen" Geschlecht. Inwiefern diese Floskel nun zulässig ist, darüber lässt sich streiten. Ich hielt sie im Kontext, also der vorurteilsbehafteten Verteilung der Ministerposten, jedoch für angebracht.

    Und was die Modeindustrie angeht, beziehe ich mich nicht nur auf die Designer. Neben ihnen tragen ja vor allem auch Stylisten, (Mode-)Journalisten, die Heerschar an Blogger zur Produktion von Mode bei. Und dieses Feld ist eindeutig weiblich dominiert bzw. konotiert. Das heißt als Mann hat man schnell mal ein weibisches/schwuchteliges Image am Hals.

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  5. Das mit der weiblichen Modeindustrie finde ich auch zweifelhaft... was tragen denn die Blogger(innen) bei? Häufig verbreiten sie doch diverse Editorials, deren Fotografen, würde ich behaupten, überwiegend männlich sind. Vielleicht ist deswegen der "männliche Blick" so dominant.

    Und gemessen am Verhältnis der Geschlechter im Modestudium, kann man schon sagen, dass überproportional viele Männer anschließend Karriere machen.

    Wie das in den Moderedaktionen aussieht - vermutlich sitzen da tatsächlich viele Frauen. Aber die verkaufen doch dann auch nur das, was die (sehr oft männlichen) Designer produzierten?

    Ich schließe mal mit "Hm".

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  6. Hey Elke! Auch wenn die Macht der Blogger in vielen Belangen deutlich eingeschränkt ist, tragen sie doch dazu bei das Übermaß an Trends und Stilen und Farben und Schnitten, die uns Saison für Saison fast schon erschlagen, auf ein straßentauglichen allgemein tragbaren Pool zusammenzufassen. Damit tragen sie letztendlich entscheidend zur Produktion von Mode (nicht von Kleidung) bei.

    Das Männer auch in der Modebranche eher Karriere machen, streite ich nicht ab. Warum sollte das da auch anders sein?! Trotzdem ist die Modebranche kein typisch männliches Betätigungsfeld, wie das Handwerk zum Beispiel.
    Es ist eine Branche, mit der in der allgemein oberflächlichen Betrachtung weder außerordentliche intellektuelle noch physische Leistungen in Verbindung gebracht werden.

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  7. In erster Linie ist Andrej Pejic ein lustiger Typ!

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